In Deutschland warten über 9.500 Menschen auf ein Spenderorgan. Im letzten Jahr gab es 955 Spender*innen, die 3113 Organe spendeten. Im Durchschnitt schenkt jede Spenderin und jeder Spender drei schwerkranken Menschen eine neue Lebenschance. Mit knapp 12 % an Spenderinnen und Spendern sind wir in Deutschland Schlusslicht in Europa. Im letzten Jahr konnten 3.264 Organe von verstorbenen Spenderinnen und Spendern aus dem gesamten Eurotransplantraum in deutschen Kliniken transplantiert werden. Um also den hohen Bedarf an Organen zu decken, werden unseren Bürger*innen zur Hälfte Organe anderer europäischer Länder mit anderen Gesetzgebungen zur Organspende implantiert.
84% der Deutschen stehen der Organ- und Gewebespende positiv gegenüber. Dennoch haben nur 39 % der Bürger*innen in einem Organspendeausweis oder in einer Patient*innenverfügung ihre Zustimmung zur postmortalen Organentnahme gegeben.
Um diese Diskrepanz, zwischen möglicher und dokumentierter Spendenbereitschaft zu minimieren, gibt es nun den Vorschlag der Bundesregierung der Widerspruchslösung. Diese dreht das bisherige System um: Statt der schriftlichen Zustimmung zur Organentnahme im Falle des Todes, braucht es dann den schriftlichen Widerspruch zur Organspende. Im Falle des Todes eines potenziellen Spenders können laut Gesetzentwurf Angehörige auch dann noch der Spende widersprechen.
Dieses System gibt es bereits in folgenden europäischen Ländern:
- Belgien
- Finnland
- Griechenland
- Italien
- Luxembourg
- Österreich
- Polen
- Portugal
- Slowakei
- Slowenien
- Spanien
- Tschechien
- Ungarn
Besonders erfolgreich ist die Transplantationspolitik in Spanien. Hier gibt es eine Spender*innen Quote von 46,9 %, also eine vierfach höhere als in Deutschland. Neben der gesetzlichen Veränderung hat es Spanien mit viel Öffentlichkeits- und Informationsarbeit geschafft, ein hohes Vertrauen in die Organ- und Gewebespende bei den Bürger*innen zu etablieren. Die intensive Beratung der Betroffenen und Angehörigen sowie frühzeitige Aufklärungsarbeit haben die positive Einstellung zur Organtransplantation in Spaniens Bevölkerung verstärkt. Zudem sind die Ärztinnen und Ärzte sowie die Kranken- und Altenpfleger*innen medizinisch und in psychosozialer Beratung besonders geschult.
Die neue Gesetzgebung würde vor allem dazu führen, sich schon frühzeitig mit dem Thema der Organspende auseinander zu setzen. Das Gesetz sieht keine Pflicht zur Organspende vor, aber es verpflichtet jeden und jede, sich mit dem Thema auseinander zu setzen und sich frei für oder gegen eine Organspende nach dem Tod zu entscheiden. Da jeder Mensch in Deutschland im Bedarfsfall potentiell ein Organ empfangen kann, halte ich es für eine solidarische Pflicht, sich selbst auch mit der Frage zu beschäftigen potenzieller Spender zu sein. Im Deutschen Ethikrat wird das Modell ebenfalls diskutiert und Reinhard Merkel (Mitglied es Ethikrats) sagt dazu folgendes: „Auch in einer liberalen auf individuellen Grundrechten beruhenden Rechtsordnung ist die Durchsetzung dieser Pflicht per Rechtszwang legitim und rechtsethisch vernünftig“. Eine Widerspruchslösung hält er deshalb für rechtlich zulässig. Auch Ethikratsmitglied Wolfram Henn spricht sich für eine Widerspruchsregelung aus und hält es im Zeitalter von mündigen Bürger*innen „ethisch nicht bloß akzeptabel, sondern geboten…“. Dies muss selbstverständlich unter der Voraussetzung passieren, dass neutral über die Verfügungsmöglichkeiten der eigenen Organe aufgeklärt wurde. Außerdem braucht es zeitgemäße Verfahren zur Stärkung selbstbestimmter Entscheidungsfindungen. Die jetzigen Aufklärungskampagnen haben leider nicht das gewünschte Ziel, nach mehr Spender*innen, erreicht. Ich halte eine Pflicht zur Entscheidung für zeitgemäß und sinnvoll, da
- viele Patienten auf der Warteliste versterben, weil sie nicht rechtzeitig ein Organ zugeteilt bekommen – in 2018 waren dies 901 Personen – und
- Angehörige in der akuten Verlust-Situation meist nicht im Stande sind, eine fundierte Entscheidung im Sinne der Verstorbenen zu treffen. Im Moment von Trauer und Schock ist es eine unzumutbare Entscheidung für die Hinterbliebenen. Die Widerspruchslösung würde aus meiner Sicht dazu führen, dass der Wille der Verstorbenen in den Mittelpunkt rückt.
Quellen:
- Deutscher Ethikrat, Jahresbericht 2018, 2019 Berlin
- https://www.organspende-info.de/start.html